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  • “Trauer ist die Liebe, die ich jetzt nicht mehr geben kann”

    Foto: Melina Richter, Julie Kindler

    Zwei junge Frauen verlieren ihre Väter und sagen: Ich möchte, dass diese Trauer ein Teil meines Lebens ist. So, wie ihre Väter es auch waren. Übers Trauern und darüber, was das mit Leben zu tun hat. Spoiler – viel!

    7867. Siebentausendachthundertsiebenundsechzig Tage, etwa 22 Jahre. Melina Helga Richter ist sehr dankbar, dass sie diese 22 Jahre mit ihrem Vater verbringen durfte. „Gleichwohl bin ich auch sehr, sehr sauer, dass die Zeit, die ich mit ihm hatte, so viel weniger ist, als ich jetzt noch ohne ihn auf der Erde verbringen muss.“

    Die 26-Jährige sitzt in ihrer sehr ordentlichen Wohnung in Duisburg Großenbaum in einem Sessel. Lange blonde Haare, Nasenpiercing, Wollsocken. Zwei Katzen wuseln um sie herum: Monsieur (dunkle Tigerkatze, sehr skeptisch) und Chonky (rot, neugierig). An der Wand ein Bild, auf dem in bunten Farben der Songtitel der Beatles „Here Comes The Sun“ zu lesen ist. Während des Gesprächs geht sie ab und zu auf ihren winzigen Balkon und raucht langsam selbstgedrehte Zigaretten (blauer Pueblo) mit Mentholfiltern.

    Auf einem Foto auf der Fensterbank steht ein Bild von ihrem Vater und Melina als Baby, frisch aus dem Krankenhaus. Tag 3 von 7867. 

    „Ich liebe das, wie glücklich mein Vater da aussieht. Und wie stolz. Der hält mich da so fest. Das sieht so, so als würde er mich niemals fallen lassen.” Foto: Melina Richter

    Die Zahl hat Melina heute auf ihrem Handgelenk tätowiert. In ihre Handyhülle ist sie auch eingraviert, daneben ein eingeschweißtes, vierblättriges Kleeblatt. „Mein Vater war Weltmeister darin, vierblättrige Kleeblätter zu finden“, sagt Melina. Auf ihrem Oberarm ist ein weiteres Tattoo. Mein Herz bleibt bei Dir. In der Handschrift ihres Vaters. „Er hat das immer gesagt, wenn wir uns verabschiedet haben.“ Ihre Wände, ihr Handy, ihre Tattoos erinnern an ihren Vater. „Für mich ist Trauer das Ventil für die Liebe, die ich jetzt nicht mehr geben kann.“

    Kleeblatt und Tattoo. Foto: Lennart Thomas
    Die Worte hat sich Melina aus Grußkarten ihres Vaters kopiert. Foto: Lennart Thomas
    Vierblättrige Kleeblätter findet man hier am Schlüsselbund… Foto: Lennart Thomas
    …und an der Wand. Foto: Lennart Thomas

    „Am Anfang habe ich nur noch funktioniert“

    Vor vier Jahren wurde Melina von ihrer Oma angerufen, die sich Sorgen machte. Ihr Vater melde sich nicht. Melina fuhr zur Wohnung ihrer Eltern, der Vater war im Wohnzimmer eingeschlossen. Über den Balkon schaffte sie es, ins Wohnzimmer zu blicken und sah ihren Vater leblos auf der Couch liegen. Ihr Vater war an einem Aneurysma gestorben. „Die ersten Monate bestanden einfach nur daraus, sein Leben aufzuräumen“, erinnert sich Melina. Die Beerdigung organisieren. Den Umzug der Oma stemmen, die ohne Pflege des Vaters in ein Heim musste. Genauso wie den Umzug der bipolaren Mutter. Die alte Wohnung der Oma musste renoviert werden, die Mutter zog ein. Nebenbei schrieb Melina ihre Bachelorarbeit. Sie habe nur noch funktioniert. Das sei ihr aber auch ganz gelegen gekommen. „Dadurch hatte ich keine Zeit, unter meiner Trauer zusammenzubrechen.“

    Bevor Melinas Vater eingeäschert wurde, konnten Melina und ihr Bruder Abschied nehmen. Das Bild vom toten Vater, der so plötzlich und unerwartet im Wohnzimmer liegt und sie weiß nicht warum, blieb nicht das letzte in ihrem Kopf. „Ich habe meinen Vater angeguckt und dachte mir: Das ist nur noch sein Körper. Seine Seele ist jetzt wirklich woanders, aber sie kann trotzdem irgendwie immer bei mir sein.“ Als Melina und ihr Bruder den Andachtsraum verließen, hatte sie das Gefühl, ihr sei ein Rucksack voller Steine von den Schultern genommen worden.

    „Ich vermisse den Menschen, der ich mit meinem Papa war“

    Andere Wohnung in Duisburg, ähnliches Schicksal: das von Julie Kindler, ebenfalls 26. Ihr Vater starb vor einem Dreivierteljahr an Blasenkrebs. Auch sie hat einen Balkon, auf dem sie zwischendurch selbstgedrehte Zigaretten raucht. Schnell. Die Frau hat ordentlich Zug. 

    Melina und Julie kennen sich. Zuerst ganz flüchtig von ganz früher, aus einem Fußballverein. Als Melina dann auf Instagram erfuhr, dass Julies Vater gestorben war, schrieb sie ihr: „Wenn du mal mit jemandem quatschen willst, dessen Vater auch tot ist, meld dich.“  Hat Julie auch gemacht. „Es hilft mir total, dass Melina mir gesagt hat: Egal, was du fühlst, brauchst oder tust: Das ist alles total valide.“ Melina sagt über Julie: „ich bin so froh, dass ich mit Julie jemanden habe, die mich einfach versteht.“

     Julie sitzt auf der Couch, neben ihr ihre Hündin Alma, die Angst vor Männern hat und heimlich Franzbrötchen frisst (der Arzt gab Entwarnung). Julie hat lange blonde Haare, eine tiefe Stimme. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild mit der Handschrift ihres Vaters. Ich liebe dich, dein Papa, Pops.

    Gerahmt hängen die Worte ihres Vaters jetzt an ihrer Wand. Foto: Julie Kindler
    …und hier kommen sie her: aus Julies Geburtsbuch. Foto: Julie Kindler

     „Ich vermisse den Menschen, der ich im Gespann mit meinem Papa war“, sagt Julie. „Mein Vater war der übelste Restaurantgänger, das kannst du eigentlich keinem erzählen.“ Alle zwei, drei Tage ging er essen, oft mit Julie. Treffen sich zwei Kindlers, gemeinsames Hobby: Leute beobachten und nachstellen, was die wohl gerade miteinander besprechen. „Wir waren uns in Vielem ähnlich. Ich höre öfter: Gerade erinnerst du mich so an Heinz. Mich erinnert keiner an ihn.“

    Der “übelste Restaurantgänger” überlegt, was er essen möchte. Nicht im Bild: Julie und Passanten, die man nachstellen könnte. Foto: Julie Kindler

    Da geht noch was, das hat mit Leben zu tun

    Vor einem Jahr galt der Blasenkrebs ihres Vaters als geheilt, doch die Ärzt*innen hatten die gestreuten Metastasen übersehen. Er musste wieder ins Krankenhaus. Vollzeit mit dabei: Julie und ihre Familie. Julie, selbst ausgebildete Krankenpflegerin, berichtet von einem unterbesetzten und überforderten Krankenhauspersonal. Wenn Medikamente und Schmerzmittel vergessen wurden, musste sie regelmäßig eingreifen. Sie war unbezahlte Teilzeitpflegekraft, anstatt einfach Vollzeittochter sein zu dürfen.

    Beim letzten Atemzug zu Hause waren alle wichtigen Menschen dabei. Ihr Vater habe das gemerkt und sei nochmal etwas wacher geworden: „Ach, ihr seid ja jetzt alle da. Dann kann ich ja jetzt sterben.“

    „Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich genauso von der Welt gehen wie mein Vater“, sagt Julie.

    “Na, wenn jetzt alle da sind, hol ich mal den Rosé”, sagte Julies Mutter (rechts). “Rosé?”, fragte ihr Vater und freute sich. Foto: Julie Kindler

    Der ganze Abschied war wie die Trauer danach – nicht nur traurig: „Ich würde Leuten echt empfehlen, Fotos zu machen. Wir hatten auch sehr viel Freude im Krankenhaus. Wir haben ganz oft Musik angehabt, haben getanzt.“ Sie aßen Dany Sahne, genossen den Sonnenuntergang, tranken Sekt. „Das war etwas ganz, ganz Besonderes, was nur sehr wenige Menschen so haben.“

    Ihr Papa hatte dazu Folgendes gesagt: „Egal, wie scheiße die Situation gerade ist, das hat ja alles noch so viel mit Leben zu tun.“ Julie sagt: „Ich glaube der wusste, dass er uns etwas mitgeben muss, an das wir uns festhalten können. In dem Moment, wo dein Leben den Bach runter geht, noch so das Schöne zu sehen, ist eine besondere Stärke.“

    Julie und ihre Schwester Anna am Bett ihres Vaters. Foto: Julie Kindler
    Julie mit Bruder und Schwester am Bett ihres Vaters. Foto: Julie Kindler
    Die Zeichnung ist von Julies Schwester Anna. Sie steht auf ihrem “Papa-Schrein.” Foto: Lennart Thomas

    Da geht noch was, das hat mit Leben zu tun.Wer durch Duisburg Hochfeld läuft, wo Julie wohnt, kann auf dem ein oder anderen Laternenmast einen weißen Sticker mit den Worten ihres Vaters entdecken. Julie hat sie dort hingeklebt. „Mein Papa hat total viel geschrieben. Aber er hat es nie geschafft, seine eigenen Sachen in die Welt zu tragen. Wenn jetzt sein Spruch anderen Leuten Kraft gibt, habe ich das Gefühl, etwas für ihn vollenden zu können.“

    Vermutlich Duisburgs zweithäufigster Aufkleber nach dem MSV-Logo. Foto: Lennart Thomas

    In deinem Leben geht es gerade nur um Trauer.

    „Ja, of course!“

    Fast jeden Tag spricht Julie in Texten, Fotos und Videos über ihre Trauer und ihren Vater. Sie teilt das auf Instagram. Sie mache das in erster Linie für sich. Und damit man verstehe, wie vielfältig Trauer in Wirklichkeit sei. Manche Leute seien ihr entfolgt. „Die sagen: In deinem Leben geht es ja gerade nur um Tod. Und ich denke mir: Ja, also of course!“

    Ihre Hündin Alma ist Julies Lifeguard. Manchmal ist Julie so niedergeschlagen, dass sie es kaum aus dem Bett schafft. Doch sie muss drei Mal am Tag mit Alma raus. Zwei, drei Mal die Woche geht Julie mittlerweile auch wieder in die Uni, manchmal aber auch nicht. „Ich bin der König geworden im Dinge absagen. Ich schaue einfach, was mir gerade guttut und was ich kann.“ Einfach weitermachen wie zuvor? Das wolle sie gar nicht. Das Verarbeiten steht an erster Stelle. „Ich würde es auch gar nicht schaffen, so viel in die Uni zu gehen. Ich sitze an manchen Insta-Beiträgen vier Stunden dran. Das ist so eine emotionale Arbeit, dass erschöpft auch und macht mich arschmüde.“

    „Jeder trauert auf seine Weise. Den einzigen Rat, den ich wirklich jedem vom ganzen Herzen gebe, ist: Schreibt euch eure Erinnerungen auf!“, sagt Birgit Mahlke. Sie ist Trauerbegleiterin in Düsseldorf, kennt Melina aus der Einzeltrauerbegleitung. Julie nahm bereits kurz vor dem Tod ihres Vaters Kontakt zu ihr auf. Viele erzählen ihr, dass sie weder Energie noch die geeignete Stimmung empfinden würden, um ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Dass sie lieber noch auf den passenden Augenblick warten würden. „Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Augenblick aber nicht kommt, ist ziemlich groß“, gibt Birgit zu bedenken. „Schreib einfach alles auf, was dir einfällt, egal wie und wo. Diese Erinnerungen kann dir keiner mehr nehmen!“

    „Das jemand sich entscheidet, so aktiv zu trauern wie Melina und Julie, ist sehr ungewöhnlich“, erzählt Birgit. „Die beiden schreiben ja sehr schöne Texte. Viele wissen gar nicht, dass sie diese Ressourcen zum Verarbeiten haben.“

    Trauern wird nicht leichter. Es wird anders

    Trauern wird mit der Zeit nicht unbedingt leichter. „Irgendwann sind es sieben Jahre und und dann 17 und 27 und 37 und mein Papa wird immer noch nicht wieder da sein“, sagt Melina. „Diese Endgültigkeit zu akzeptieren, das wird tatsächlich schwerer mit der Zeit.“

    „Auch wenn man schon Erwachsen ist, möchte man trotzdem Kind bleiben dürfen“, sagt Birgit. „Man will den Tod einfach nicht wahrhaben, weil man die Person so unfassbar vermisst.“ Durch den Tod des Vaters oder der Mutter wird das eigene Leben auf den Kopf gestellt. Die Kinder müssen auf einen Schlag erwachsen werden und beginnen, das bisherige Leben zu hinterfragen, erklärt Birgit. Melina kennt das. Ihr Fazit vier Jahre später: „Innerlich habe ich wirklich einen Rundumschlag gemacht.“ Als ihr Vater starb, trennte sie sich von ihrem Freund, mit dem sie sieben Jahre zusammen war. Sie suchte sich Gruppen- und Einzeltherapie.

    Sie sei ein richtiges Papakind gewesen. „Auf den habe ich nichts kommen lassen.“ Aber die Beziehung hatte auch ihre Tiefpunkte. Ihr Vater litt an einer Suchterkrankung. „Das alles ohne meinen Vater aufzuarbeiten, hat es schwieriger gemacht. Gleichzeitig glaube ich, dass es nur möglich war, weil er nicht mehr gelebt hat.“ In der Therapie lernte sie, dass sie auch wütend auf ihren Vater sein darf und die schönen Erinnerungen trotzdem genauso bleiben. Nach seinem Tod rief sie einen Therapeuten an, der sie noch aus der Jugendzeit kannte. „Das Erste, was der gesagt habe, war: Vielleicht kannst du dann jetzt endlich frei sein. Und vielleicht ist das auch ein bisschen das, was da passiert ist. Dass ich mich einfach entwickeln konnte, ohne mir dauerhaft Sorgen machen zu müssen.“

    Melina mit ihrem Vater 2018 beim Urlaub im Zillertal. Foto: Melina Richter

    „Trauer ist so vielfältig wie die Beziehung, die du zu dem Verstorbenen hattest“

    Die Abstände zwischen Melinas Trauerepisoden werden länger, die Intensität der Trauer nicht geringer. Rauslassen kann sie das bei den Wenigsten. „Auch jetzt gerade im Gespräch fühle ich mich wie eine Nachrichtenreporterin. So als wäre das gar nicht mein Leben, über das ich erzähle“, sagt sie. Sie hat gelernt, in Texten von ihrem Leben zu erzählen. Manche teilt sie auch auf Instagram. „Das ist für meine Trauerverarbeitung sehr wichtig.“

    Trauer im Schreiben zulassen. Oder emotional bei ihrem Bruder, ihrem Freund und ihrer Oma. „Bei mir sind das fast schon körperliche Schmerzen. Das ist wirklich, als würdest du implodieren.“ Das körperlich rauszulassen, helfe ihr sehr. „Ich habe wirklich eine große Liebe dafür entwickelt, in ein Kissen zu schlagen.“ 

    Bei dem Wort Trauergingen die meisten davon aus, dass jemand einfach nur traurig sei, sagt Melina. Doch das stimmt nicht: „Trauer ist so vielfältig wie die Beziehung, die du zu dem Verstorbenen hattest. Du darfst alles fühlen, was du fühlst. Es ist okay, erst einmal richtig sauer zu sein. Du darfst erleichtert sein. Du darfst Mitleid haben für dich. Und für die Person, die gestorben ist.“ Oder Neid. Auf Menschen, deren Eltern noch leben. „Da denkt man vorher überhaupt nicht drüber nach, dass einen das mal beschäftigt. Du beschwerst dich, weil du dich mit deinem Vater streitest. Aber du kannst dich halt noch mit deinem Vater streiten.“

    „Bitte stellt mir Fragen!“

    Sie gibt Freundschaften nicht schnell auf, sagt Julie. Aber wenn Leute ihr nicht guttun oder nicht für sie da sein könnten, könne sie das in diesem Fall nicht verzeihen. Einige Freund*innen hätten sich wochenlang nicht gemeldet. Und dann in einem langen Text geschrieben, sie hätten nicht die richtigen Worte gefunden. „Ja, Digga, meinst du, ich finde hier die richtigen? Darum geht es doch gar nicht! Du willst doch da sein. Dann sei halt einfach da.“ Gern auch ohne Worte. Manchmal reiche es, wenn sich jemand neben sie setzen und sagen würde, dass das alles eben gerade riesengroße Scheiße sei. „Ich glaube, so schwierig ist es eigentlich nicht.“

    Kenn ich, wird sich Melina denken. „Ich glaube, dass in unserem Alter viele Menschen sehr überfordert sind mit Trauer. Wer erklärt dir denn, wie man das Leid einer Freundin aushält? Trauer ist ausweglos, das ist eine Straße ohne Ende. Man kann keine Lösung auf dem Silbertablett servieren und der Person geht es besser.“

    Außerdem haben Trauernde ganz unterschiedliche Bedürfnisse, sagt Birgit. „Ich sage den Teilnehmern meiner Trauergruppen deswegen: Ihr müsst auf die anderen zugehen und ihnen sagen, was ihr braucht. Sie wissen nicht, wie sie mit euch umgehen sollen.“

    Was Julie total berührt, sind kleine Gesten. So wie die einer Freundin, die ihren Vater aus gemeinsamen Urlauben kennt und ihr ein Video von einem Nachtmarkt aus Spanien schickte. Mit der Nachricht: Ich weiß, hier hätte es dem Heinz richtig gut gefallen. „Da habe ich Rotz und Wasser geheult“, erinnert sich Julie. „Aber ich bin ja nicht nur traurig. Bitte stellt mir Fragen. Und wenn ich dann anfange zu heulen, dann auch, weil es mich glücklich macht, von seinem Leben zu erzählen.“